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Physik für Schülerinnen und Schüler

Von der klassischen Ungewissheit zur quantenphysikalischen Un-be-stimmtheit

© H. Hübel Würzburg 2013

Empfohlene Glossarthemen:

Quantenteilchen

Wellenfunktion

Quantenobjekt

Glossar zur Physik für Schülerinnen und Schüler

Physik für Schülerinnen und Schüler

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Stell' dir ein Gedankenexperiment mit einem großen präparierten Ball vor. Eine LED in seinem Inneren: blitzt auf, wenn er von einem kleineren Ball getroffen wird.

1. Ein Gedankenexperiment aus dem Bereich der klassischen Physik

Im Raum herrsche absolute Dunkelheit; es ist nur sicher, dass ein großer Ball vorhanden ist. Sein Ort ist ungewiss, aber jeder weiß, dass sich der Ball an einem Ort im Raum befindet. Wenn aber der Beobachter mit einem kleinen Ball den großen Ball trifft, blitzt in diesem die LED auf. Wird er gleich darauf ein zweites Mal getroffen, blitzt sie quasi am gleichen Ort auf: Der Ort des Blitzes verrät den Ort des großen Balls, sogar reproduzierbar; er ist jetzt gewiss.

Im Allgemeinen vergeht aber zwischen beiden Würfen eine Zeitspanne. In ihr bewegt sich der große Ball weiter, auch weil er vom kleinen Ball weggestoßen wurde, und wird in der Regel ein zweites Mal nicht mehr am gleichen Ort getroffen. Gelingt es, den Ball auch jetzt zu treffen und den Ort des Aufblitzens zu registrieren,  kann man daraus die Geschwindigkeit berechnen, wenn man die inzwischen verstrichene Zeitspanne kennt. Dann kann man die (mittlere) Geschwindigkeit im Zeitintervall zwischen beiden Würfen errechnen. Vor dem zweiten Wurf war auch die Geschwindigkeit völlig ungewiss. Im Augenblick des zweiten Aufblitzens ist der Ort gewiss und die bis dahin erreichte Geschwindigkeit immerhin ungefähr.

Durch den zweiten Wurf erhält aber der große Ball einen Stoß und wird weggeschleudert. Für spätere Zeitpunkte sind Ort und Geschwindigkeit erst recht ungewiss. Gewissheit für den erreichten Ort und die mittlere Geschwindigkeit in der Zwischenzeit könnte ein dritter Treffer verschaffen. Durch den Stoß wird aber in der Regel die Geschwindigkeit erneut verändert, so dass beide, Ort und Geschwindigkeit, für einen späteren Zeitpunkt ungewiss sind. Über Ort und Geschwindigkeit kann man so keine gewisse Kenntnis erlangen. Es sieht so aus, als würde sich der große Ball zwischen den einzelnen Stößen unkontrollierbar verhalten.

2. Theoretisch ist Gewissheit in der klassischen Physik erreichbar

Weitgehende Gewissheit könnte man aber leicht erreichen: Man müsste nur das Licht einschalten und könnte durch Handstoppen oder besser mit einer Videokamera die Orte im Laufe der Zeit registrieren und daraus sogar die Geschwindigkeiten im Laufe der Zeit berechnen. Zwar ist jede Messung mit Fehlern behaftet, aber im Prinzip könnten Ort und Geschwindigkeit beliebig genau gemessen werden. Die vorherige Ungewissheit ist dann in (weitgehende) Gewissheit für Ort und Geschwindigkeit übergegangen. Es ist sogar die Bahn des großen Balls im Laufe der Zeit zu beobachten. Von solchen Eigenschaften ist auch in der Mikrophysik (Atomphysik, Quantenphysik) die Rede. Sie heißen dann "klassisch denkbare Eigenschaften". Warum diese vorsichtige Bezeichnung nötig ist, wirst du gleich verstehen.*)

3. Tatsächliche gibt es auch in der klassischen Physik Grenzen der Gewissheit

In der Praxis wird es aber durch die unvermeidbaren Messfehler unmöglich sein, absolute Gewissheit über eine Messgröße zu erzielen. Das ist häufig verschmerzbar. Es reicht in der klassischen Physik häufig aus, statt mit exakten Werten mit guten Näherungswerten zu arbeiten.

Bei sehr großen Systemen ist es zudem praktisch unmöglich, auch nur halbwegs sichere Kenntnis über jedes der einzelnen Teile zu erhalten. Wenn wir nicht nur einen großen Ball, sondern sehr viele hätten, würde auch eine Videoaufzeichnung bei Licht oder noch raffiniertere Verfahren uns nicht einmal näherungsweise die Orts- und Geschwindigkeits-Koordinaten aller Bälle verraten. Ganz aussichtslos ist das bei einem Gas, bei dem wir von typisch 1023 Atomen oder Molekülen ausgehen müssen. Zum Glück haben die Physiker statistische Methoden entwickelt, mit denen wenigstens für die Mittelwerte (Erwartungswerte) von physikalischen Größen Gesetzmäßigkeiten mit sicheren Ergebnissen formuliert werden können. Niemand interessiert sich für die Messwerte von allen einzelnen Atomen oder Molekülen. Für ein bestimmtes Molekül sind diese völlig ungewiss, obwohl jeder im Bereich der klassischen Physik annimmt, dass jedes Molekül zu einem bestimmten Zeitpunkt einen bestimmten Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit besitzt, Eigenschaften, die lediglich unbekannt sind.

Eine andere, aber damit zusammenhängende Frage ist, ob man für ein bestimmtes System aus beschränkt sicheren Anfangsbedingungen die Zukunft berechnen kann. Diese Fragestellung wird auch in der Chaostheorie im Zusammenhang mit Kausalität und Determiniertheit untersucht.

So geht man also in der klassischen Physik davon aus, dass in vielen Fällen die Kenntnis von physikalischen Größen  mehr oder weniger ungewiss ist. Gründe könnten sein:

Dennoch geht man im Bereich der klassischen Physik davon aus, dass die betreffenden Messgrößen im Prinzip wohl definiert sind und zu einem bestimmten Zeitpunkt feste, exakte Werte haben, dass diese aber in vielen Fällen unbekannt oder nur näherungsweise bekannt sind. Dann spricht man von Ungewissheit.
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Es gibt noch ein Nebenproblem: Auch, wenn wir den Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt gemessen haben, kennen wir nach diesem Verfahren die Geschwindigkeit nur im Intervall vorher. Wenn wir aber die Intervalllänge möglichst klein wählen, gelten Ort und Geschwindigkeit praktisch für den gleichen Zeitpunkt, aber nicht unbedingt für die Zukunft.

4. Schon klassisch wäre es im atomaren Bereich schwierig, Gewissheit zu erreichen

Im atomaren Bereich, der durch die Quantenphysik beschrieben wird, hat man i.A. erst recht Schwierigkeiten, für einen bestimmten Zeitpunkt Ort oder Geschwindigkeit anzugeben. Beleuchtung mit Licht würde auf der mikroskopischen Skala den Beschuss mit Photonen bedeuten. Wenn die klassische Physik weiterhin gelten würde, wären die Bereiche der Ungewissheit noch viel größer, weil dort das beobachtete Teilchen (Elektron  oder Atom - großer Ball) und die Geschossteilchen (Photonen - kleine Bälle) häufig vergleichbaren Impuls**) haben und weil - klassisch gesprochen - die Geschossteilchen das gestoßene Elektron  oder Atom stärker anstoßen bzw. (klassisch) "stören" könnten. Auch wäre die Ungewissheit beliebig groß, solange nicht eine Messung vorgenommen würde. Elektronen, Atome, Photonen, Protonen, Neutronen und viele andere Teilchen im atomaren Bereich werden in der Quantenphysik häufig als Quantenteilchen bezeichnet.

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5. Aber: Klassisch denkbare Eigenschaften muss ein Quantenteilchen ohne eine Messung nicht in jedem Fall haben (Un-be-stimmtheit).

Aber im atomaren Bereich gibt es keine Möglichkeit, durch einen Trick wie das Einschalten des Lichts, alle Ungewissheiten zu beseitigen, die Ungewissheit in Gewissheit überzuführen.

Die verschiedensten Experimente lassen sich nur mit der Annahme deuten, dass Quantenteilchen ohne eine Messung eine Reihe von klassisch denkbaren Eigenschaften i.A. nicht haben, wenn diese nicht gemessen werden. Man nennt solche Eigenschaften un-be-stimmt.

Betrachte ein Elektron in einem Wasserstoff-Atom. Da das Atom existiert und nach außen hin neutral ist, ist die Anwesenheit eines Elektrons gesichert. Aber ohne eine Messung ist es auf keine Weise möglich, seinen Ort anzugeben. Man kann ohne eine Messung nicht einmal entscheiden, ob es sich an irgendeinem Ort befindet oder nicht. (Wenn es in dieser Aussage keinen Ort hätte, hieße das, dass der Begriff Ort für das Quantenteilchen gar keinen physikalischen Sinn hat - für klassische Gegenstände ist das kaum vorstellbar.) Sein Ort ist unbekannt, aber nicht nur ungewiss, sondern un-be-stimmt.  Es sei denn, man führt eine Ortsmessung für das Elektron durch. Im Idealfall liefert die Messung dann einen be-stimmten Ort. (Bei einer - schwer durchzuführenden - idealen Messung würde sich kurz darauf sogar der gleiche Ort ergeben. Das beweist, dass das Elektron jetzt diesen Ort wirklich hat; die Ortsmessung ist reproduzierbar, wie das bei einer anständigen Messung sein muss). Jetzt hat der Ortsbegriff für das Quantenteilchen einen Sinn erhalten. (Stattdessen ist es - wie unten gezeigt wird - physikalisch sinnlos geworden, von einer Bewegung zu sprechen, obwohl vorher vielleicht eine Geschwindigkeit gemessen wurde. Dieser Messwert ist jetzt ungültig geworden.)

Entsprechend könnten wir auch nach der Geschwindigkeit des Elektrons fragen. Ohne eine Messung ist es auf keine Weise möglich, seine Geschwindigkeit anzugeben. Man kann ohne eine Messung nicht einmal entscheiden, ob es irgendeine Geschwindigkeit hat oder nicht. (Wenn es in dieser Aussage keine Geschwindigkeit hätte, hieße das nicht, dass es ruht, sondern, dass der Begriff Bewegung für das Quantenteilchen gar keinen physikalischen Sinn hat - für klassische Gegenstände ist das kaum vorstellbar.) Seine Geschwindigkeit ist unbekannt, aber nicht nur ungewiss, sondern sogar un-be-stimmt.  Es sei denn, man führt eine Geschwindigkeitsmessung für das Elektron durch. Im Idealfall liefert die Messung dann eine be-stimmte Geschwindigkeit. (Bei einer - schwer durchzuführenden - idealen Messung würde sich kurz darauf sogar die gleiche Geschwindigkeit ergeben. Das beweist, dass das Elektron jetzt diese Geschwindigkeit wirklich hat; die Geschwindigkeitsmessung ist reproduzierbar, wie das bei einer anständigen Messung sein muss). Jetzt hat der Geschwindigkeitsbegriff für das Quantenteilchen einen Sinn erhalten. (Stattdessen ist es - wie unten gezeigt wird - physikalisch sinnlos geworden, von einem Ort zu sprechen, obwohl vorher vielleicht ein Ort gemessen wurde. Dieser Messwert ist jetzt ungültig geworden.)

Würden wir in der selben Situation ("im selben Zustand") immer wieder den Ort oder die Geschwindigkeit des Elektrons messen, so würden wir im Allgemeinen streuende Messwerte erhalten. Aber nicht nur deshalb, weil sich in der Zwischenzeit das Elektron auf einer vermeintlichen Bahn weiter bewegt hat, sondern weil ohne die Messung der Ort z.B. keine Eigenschaft des Elektrons ist. Schlampig sage ich dann manchmal: Auf eine dumme Frage ("Elektron, wo bist du?") kommt auch eine dumme Antwort (einmal hier, einmal dort). Un-be-stimmtheit ist mit streuenden Messwerten verbunden. Die Quantentheorie erlaubt es erfreulicherweise, Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten solcher Messwerte gesetzmäßig zu erfassen und vorherzusagen. Dazu gibt es verschiedene Verfahren, u.a. mit Hilfe der Schrödinger-Gleichung.

Bei den Zuständen, die der klassischen elektromagnetischen Welle einer Laserschwingung am nächsten kommen, sind ohne eine Messung die elektrische und die magnetische Feldstärke un-be-stimmt. Damit hängt auch zusammen, dass auch die Zahl der beteiligten Photonen ohne eine Messung un-be-stimmt ist. Führen wir Messungen der Photonenzahl tatsächlich durch, würden wir einmal diesen Wert erhalten, ein andermal jenen. Ähnlich verhält es sich bei einem Atomlaser. Dass die Teilchenzahl un-be-stimmt ist, widerspricht unseren Vorstellungen gründlich! (Solche Zustände heißen kohärente Zustände.)

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6. Ein Quantenteilchen kann manche Paare von klassisch denkbaren Eigenschaften nicht gleichzeitig haben (Komplementäre Eigenschaften)

Hat man nach diesen beiden Messungen also Ort und Geschwindigkeit des Elektrons? Ja, aber sie sind zu ganz verschiedenen Zeitpunkten gültig. Es gelingt nicht, für den gleichen Zeitpunkt gleichzeitig gültige Messwerte zu erhalten. Die Geschwindigkeitsmessung macht eine vorherige Ortsmessung ungültig, eine Ortsmessung eine vorherige Geschwindigkeitsmessung. Ort und Geschwindigkeit sind nicht gleichzeitig messbar; sie sind komplementär zueinander. Ohne eine Messung hat es keinen physikalischen Sinn von Ort und Geschwindigkeit als Eigenschaften des Elektrons zu sprechen. Deshalb heißen sie un-be-stimmt.

In diesem Sinn sagt man manchmal, ein Elektron habe ohne eine Messung keine Geschwindigkeit. Dann  kann man weder aussagen, dass das Elektron ruht, noch dass es in Bewegung ist. Es ist dann physikalisch sinnlos, von einer Geschwindigkeit oder Bewegung des Elektrons zu sprechen.

Wenn man in diesem Sinn sagt, das Elektron habe ohne eine Messung keinen Ort, dann kann man weder aussagen, dass sich das Elektron an einem bestimmten Ort befindet, noch dass es über die ganze Welt oder einen Teil von ihr verteilt ist. Es ist dann physikalisch sinnlos, von einem Ort des Elektrons zu sprechen.

Zwar kann nach einer Messung der Ort des Elektrons be-stimmt sein. Dann ist dieser Ort tatsächlich Eigenschaft des Elektrons, wenigstens einige  Zeit lang. Oder es kann nach einer Messung die Geschwindigkeit des Elektrons be-stimmt sein. Dann ist diese Geschwindigkeit tatsächlich Eigenschaft des Elektrons, wenigstens einige Zeit lang. Aber die Quantenphysik lehrt, dass Ort und Geschwindigkeit des Elektrons niemals gleichzeitig Eigenschaft des Elektrons sein können.

Es gibt noch viele weitere Paare klassisch denkbarer Eigenschaften eines Quantenteilchens, die nicht gleichzeitig gültig sein können. Sie heißen komplementäre Eigenschaften.

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7. Ein physikalisches Experiment mit einem LCD-Bildschirm und einer Polarisationsbrille

Polarisiertes Licht ist Licht, bei dem der Vektor der elektrischen Feldstärke in einer bestimmten Richtung schwingt. Von einem LCD-Bildschirm geht solches polarisiertes Licht aus. Er enthält einen Polarisator PO. Besorge dir eine Polarisationsbrille.  Die eingesetzten Folien lassen für die beiden Augen nur senkrecht zueinander polarisiertes Licht durch. Markiere die beiden Polarisationsrichtungen durch einen Pfeil (Es kommt nur darauf an, dass beide Pfeile senkrecht zueinander stehen). Trenne die beiden Polarisatoren, beschrifte einen mit AN (Analysator), den anderen mit T (Tester). Z.B. beim Stark-Verlag kannst du eine solche Polarisationsbrille für wenige Euro erwerben.

1. Versuch: Ermittle mit dem Tester T die Polarisationsrichtung des vom Bildschirm (BS) ausgehenden Lichts (Orientierung 1). Offenbar hat das Licht des Bildschirms bzgl der Orientierung 1 be-stimmte Polarisation. Alles Licht, alle Photonen, die den Bildschirm verlassen, haben diese Polarisationsrichtung als Eigenschaft.

2. Versuch: Auch durch den Analysator AN tritt das aus T austretende Licht, wenn die Pfeile auf AN und T gleichgerichtet (Orientierung 1). Das bestätigt: Die festgestellte Polarisation der vom Bildschirm austretenden Photonen ist wirklich eine (be-stimmte) Eigenschaft von ihnen.

3. Versuch: Drehe jetzt AN (ohne T). Bei den meisten Orientierung von AN tritt immer noch Licht aus, wenn auch weniger als beim Versuch 1. Stelle mit T fest, welche be-stimmte Polarisation die durch AN tretenden Photonen jetzt haben (Orientierung 2). Offenbar haben sie jetzt eine andere Polarisation als beim Versuch 1. Dessen Polarisation haben sie völlig vergessen.

4. Versuch: Orientiere jetzt T so (ohne AN), dass kein Licht hindurchtritt (Orienterung 3 senkrecht Orientierung 1). Die be-stimmte Polarisation der austretenden Photonen bzgl. der Bildschirmpolarisation wird bestätigt.

Zu Versuch 4: Die den Bildschirm BS verlassenden Photonen haben be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 1 (hier waagrecht).
5. Versuch: Schiebe jetzt AN zwischen Bildschirm und T. Wenn T und AN gleich orientiert sind, ändert sich nichts daran, dass kein Licht hindurchtritt. Aber du kannst AN auch drehen. Bei den meisten Orientierungen von AN (Orienterung 2) tritt auf einmal Licht durch T hindurch. Den Analysator AN haben Photonen verlassen, die nicht mehr wie die Bildschirm-Photonen (Orientierung 1) polarisiert sind; andernfalls würde sie T blockieren. Das bestätigt, dass die durch AN hindurchtretenden Photonen vergessen haben, dass sie den Bildschirm in einer anderen Polarisation verlassen haben.
Zu Versuch 5: T lässt keine Photonen mit be-stimmter Polarisation bzgl.
Orientierung 1 durch, wohl aber Photonen mit be-stimmter Polarisation bzgl Orientierung 2 (zugleich un-be- stimmter bzgl. Orientierung 1).
(Hinweis: Es spielt keine Rolle, dass die Polarisationsbrille evtl. zirkular polarisiertes Licht erzeugt.)

Versuch 2 kann man auch so deuten: Eine ideale quantenmechanische Messung ist reproduzierbar.

Versuch 3 sagt uns, dass durch eine Messung eine Eigenschaft be-stimmt wird. Obwohl die aus dem Bildschirm austretenden Photonen eine be-stimmte Polarisation hatten (bzgl. Orientierung 1), erzeugt eine neue Messung bzgl. einer anderen Polarisationsrichtung wieder eine be-stimmte Polarisation, diesmal bzgl. der anderen Orientierung 2. Oder auch: Obwohl das Licht aus dem Bildschirm be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 1 hat, hat es zugleich un-be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 2. Das ermöglicht den Durchtritt durch AN.

Versuch 5 sagt uns, dass durch die zweite Messung der Polarisation mittels AN die Eigenschaft "be-stimmte Polarisation bzgl Orientierung 1" verloren gegangen ist. Man kann nicht zugleich be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 1 und be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 2 haben. Beide Eigenschaften sind komplementär zueinander.

Versuch 5 heißt auch Quantenauslöscher, weil durch AN die Eigenschaft "be-stimmte Polarisation bzgl. Orientierung 1" vollkommen ausgelöscht worden ist. 

Bei dem Licht des Bildschirms sind außerordentlich viele Photonen beteiligt. Deswegen lassen sich die Beobachtungen auch anders erklären. Hätten wir genügend empfindliche Sensoren, würden alle beschriebenen Beobachtungen auch für einzelne Photonen gelten, wofür es keine andere Erklärung gäbe.

In einer Simulation mit dem Programm POLARIS.exe vom Autor kannst du das nachvollziehen.

Bildschirmfoto vom Programm POLARIS.exe zum Quantenauslöscher.

Ein weiteres Beispiel mit Elektronen belegt ganz ähnlich, dass eine klassisch denkbare Eigenschaft, die in der Quantenphysik un-be-stimmt ist, nicht nur unbekannt ist, sondern ohne eine Messung gar keinen physikalischen Sinn hat. Dort wird auch gezeigt, dass komplementäre Messgrößen nicht gleichzeitig als Eigenschaften existieren, und dass die Messung einer Größe A eine frühere Kenntnis einer komplementären Größe B ungültig macht.

Bei den kohärenten Zuständen, die der klassischen elektromagnetischen Welle einer Laserschwingung am nächsten kommen, sind z.B. die Photonenzahl und die Phase der elektromagnetischen Welle komplementär.

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8. Vergleich von Planetensystem und Atom

Wenn ein Planet um die Sonne kreist, können wir im Prinzip für jeden Zeitpunkt Ort und Geschwindigkeit angeben. Beide sind dann be-stimmt. Die Planetenbewegung wird durch die klassische Physik richtig beschrieben. Es gibt eine Planetenbahn als Folge von (gleichzeitigen) Orts- und Geschwindigkeitskoordinaten im Laufe der Zeit.

Für das Elektron im Atom kann man zwar Ort und Geschwindigkeit jeweils getrennt/unabhängig messen, aber es gibt keinerlei Möglichkeit für den gleichen Zeitpunkt Ort und Geschwindigkeit anzugeben, und erst recht, keinerlei Möglichkeit aus einem solchen Wertepaar auf das Wertepaar zu einem anderen Zeitpunkt zu schließen. Un-be-stimmtheit und Komplementarität verhindern die Existenz einer Elektronenbahn im Atom. Hier muss die klassische Physik durch die Quantenphysik ersetzt werden.

Nun hast du vielleicht "Elektronenbahnen" im Fadenstrahlrohr oder im gasgefüllten Modell einer Kathodenstrahlröhre gesehen. Und auch beim Oszilloskop spricht jeder von einer "Elektronenbahn" von der Kathode zum Bildschirm. Ein Widerspruch?

Nein: Die Spuren, die die Elektronen im Gas hinterlassen, haben vielleicht einen Durchmesser (längs eines Querschnitts) von wenigen mm, weil nicht die Elektronen, sondern die von den Elektronen durchlaufenen Gasatome leuchten, wobei die Elektronen vielfach - klassisch gesprochen - Zickzackbahnen durch das Gas nehmen; Elektronen sind kleiner als jede messbare Größe. Sie kann man sicher nicht sehen. Aber, wie z.B. beim Oszilloskop, gibt es Fälle, wo man modellmäßig im Rahmen der klassischen Physik von Elektronenbahnen ausgehen kann, nicht aber in atomaren Dimensionen! Der Physiker Ehrenfest hat sogar gefunden, dass sich die Mittelwerte (Erwartungswerte) von Ort und Geschwindigkeit (um die tatsächliche Messwerte an den Elektronen streuen) weitgehend klassisch verhalten. Die Un-be-stimmtheiten von Ort und Geschwindigkeit in unserer klassischen Erfahrungswelt existieren im Prinzip auch, aber sie sind so klein, dass sie hier nicht bemerkt werden.

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9. Zusammenfassung

All dies widerspricht gründlich unserer Erfahrung, die wir aus unserer makroskopischen Umgebung gewonnen haben. Gut, ein Tennisball hat gleichzeitig einen bestimmten Ort und eine bestimmte Geschwindigkeit. Wir glauben mit Recht, dass das auch dann der Fall ist, wenn wir ihre Werte nicht kennen. Aber warum sollte das in der Mikrophysik genauso sein, wo wir gar keine Alltagserfahrungen haben und neue Erfahrungen erst durch das gewinnen können, was uns Experimente über die Mikrophysik lehren? Warum sollten wir denn von einem Elektron oder Atom verlangen, dass es zu jeder Zeit, auch, wenn wir keine Messung vornehmen, irgendeine klassisch denkbare Eigenschaft auch hat, wie eine bestimmte Orientierung des Drehimpulses (Spins), einen Ort oder eine Geschwindigkeit?

Von dem Vorurteil aus der klassischen Physik , dass Quantenteilchen (und andere Quantenobjekte) klassisch denkbare Eigenschaften auch dann haben, wenn sie nicht gemessen sind, müssen wir uns für die Mikrophysik trennen.

Du wirst vielleicht noch viele moderne Experimente kennen lernen, die deine Erfahrung auf den mikroskopischen Bereich erweitern. Solche neuen Erfahrungen erfordern viel Gewöhnung. Wir müssen uns ständig bewusst machen, dass die makroskopische Physik in der Mikrophysik nur mehr teilweise anwendbar ist. Gelingt uns das, werden uns die vielen neuartigen Beobachtungen an den Objekten der Mikrophysik nicht mehr fremd vorkommen. Wir werden nicht mehr versuchen, sie mit makroskopischen Erfahrungen in Beziehung setzen, sondern sie mit den neuen mikroskopischen Erfahrungen "verstehen".

Ungewiss heißen Eigenschaften, deren exakter Wert wegen unzureichender Messmethoden, Messfehlern, einer Überzahl an Teilchen, schnellen Schwankungen, ... unbekannt ist, aber doch im Prinzip existiert. Ungewisse Messgrößen können wenigstens im Prinzip beliebig gewiss gemacht werden.

Un-be-stimmt heißen Eigenschaften, die ohne eine Messung prinzipiell keinen exakten Wert haben. Sie sind dann natürlich auch unbekannt. Die Quantenphysik lehrt, dass in der Mikrophysik nicht alle klassisch denkbaren Eigenschaften be-stimmt sein können. Durch eine Messung kann eine un-be-stimmte Eigenschaft be-stimmt gemacht werden (z.B. der Ort). Stattdessen wird dann eine andere, dazu komplementäre Eigenschaft (z.B. die Geschwindigkeit) wieder un-be-stimmt. Es gibt Paare von Eigenschaften, die nie zugleich be-stimmt gemacht werden können (komplementäre Eigenschaften).

Der Österreicher A. Zeilinger, einer der großen Quantenphysiker unserer Zeit, hat einmal formuliert:

Indeed, following Bohr, I would argue that we can understand quantum mechanics, if we realize that science is not describing

how nature is

but rather expresses

what we can say about nature.

Er ist der Meinung, dass du nicht fragen solltest, was für ein eigenartiges Ding ein Quantenteilchen ist, dass wir solche Beobachtungen an ihm machen. Darüber kann die Physik keine Aussage machen; es betrifft sie nicht. Er meint vielmehr, du solltest - wie das in diesem Text geschehen ist - als physikalisch sinnvoll nur das ansehen, was die Physik über Quantenteilchen wirklich aussagen kann, gesichert durch Experimente und die Theorie.


Hinweis:

Be-stimmt und un-be-stimmt im Sinne der Quantenphysik werden hier immer entgegen der Duden-Vorschriften mit Trennstrichen geschrieben um darauf hinzuweisen, dass diese Begriffe die quantenphysikalische Bedeutung haben und nicht die umgangssprachliche.

*) Die Bezeichnung "klassisch denkbare Eigenschaften" habe ich erstmals in dem Buch von Küblbeck und Müller: Die Wesenszüge der Quantenphysik, Aulis-Verlag Deubner, Köln, 2003, 2006 gelesen.

**) Impuls ist ähnlich wie Energie eine Erhaltungsgröße. Vorläufig - und nicht ganz richtig - kannst du dir aber unter Impuls so etwas wie "Schwung" oder "Wucht" vorstellen.

( 2012 )